Fünf Ritter für die Bieler Jugend

BT-Artikel vom 09.09.22 https://ajour.ch/story/f%C3%BCnf-ritter-f%C3%BCr-die-bieler-jugend/25917

Der vollgesprayte Klotz an der Juravorstadt prägt die Bieler Jugend seit einem halben Jahrhundert. Das BT stellt fünf Menschen vor, die Teil dieser Geschichte sind.

Für Jugendliche gab es früher die Pfadfinder, die Kirche und Sportvereine. Doch im Jahr 1972 ergab eine Studie im Auftrag der protestantischen Kirchgemeinden der Stadt Biel, dass dadurch die Bedürfnisse der Jugendlichen nicht gedeckt werden. Damit begann die Geschichte des Jugendzentrums Villa Ritter in Biel.

Zwei Urgesteine erinnern sich

In den 70ern waren Drogen und Gewalt unter Jugendlichen Dauerthemen in den Medien. Der im Waadtland aufgewachsene François Golay erinnert sich, wie eine französischsprachige Zeitung titelte: «Biel – Chicago des Seelands?» Doch die Gewalt sei in Biel nicht schlimmer gewesen als in anderen Schweizer Städten. Im Jahr 1976 begann der damals 37-Jährige in dem vier Jahre zuvor geschaffenen Jugendzentrum als Animator zu arbeiten.

Seine heutige Ehefrau, Marie-Laure Krafft-Golay, ist die Vereinspräsidentin der Villa Ritter. Sie sagt: «Damals hatten alle Städte Probleme mit ihren Jugendlichen, aber dies war nicht der Grund, weshalb die Villa Ritter geboren wurde.» Für die Villa sei die Grundmotivation immer eine positive gewesen und man habe sich auf die zuvor veröffentlichte Studie bezogen. «Es ging darum, Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, sich zu treffen, ungeachtet der Herkunft, der Religion oder der gesellschaftlichen Stellung, damit sie ihre Bedürfnisse decken konnten.»

Krafft-Golay kam im Jahr 1994 ebenfalls aus dem Waadtland nach Biel, wo sie 1997 Pfarrerin wurde. Da fand sie den Draht zur Villa Ritter, und die Verbindung zwischen der reformierten Kirchgemeinde und dem Jugendzentrum wurde offiziell. Das Ehepaar lebt heute in Prägelz und die Stadt Biel wie die Villa Ritter sind ihm ans Herz gewachsen. Die Villa Ritter ist eher französischsprachig geprägt, doch Krafft-Golay betont: «Wir sind für alle offen, für alle 120 Nationalitäten der Stadt – und darüber hinaus.» Und die Zweisprachigkeit sei nach wie vor wesentlich: «Wir sind schliesslich in Biel.»

Der ehemalige Jugendliche und das Schlagzeug

Im Jahr 1986 war es der Schlagzeug-Kurs, der den jugendlichen Luigi Galati in die Villa lockte. Er verstand sich sehr gut mit seinen Eltern, aber für sie kam nicht infrage, dass ihr Sohn Musik machte. Den symbolischen Preis von zehn Franken für vier Lektionen im Monat konnte Galati aus dem eigenen Sack bezahlen. Das Angebot existiert heute noch, doch ist es jetzt der 52-jährige Galati, der die Kurse unterrichtet. Denn dank der Villa Ritter ist er Berufsmusiker geworden und hat einen Masterabschluss in Musik. Seine Kurse sind so beliebt, dass es eine lange Warteliste gibt.

Galati zeigt lachend auf Golay: «François ist auch bekannt als Monsieur Pod’Ring!» Dieser schüttelt verlegen den Kopf und will diese Bezeichnung nicht gelten lassen. Doch tatsächlich hat der Verein zusammen mit zwei Freunden den Pod’Ring erfunden. Die Kulturwoche bietet jeweils im Juli in der Bieler Altstadt Konzerte und andere kulturelle Spektakel. Für die Organisatoren war einmal mehr ein zentraler Punkt, dass die Kultur für alle zugänglich ist. Heute steht der Pod’Ring längst nicht mehr unter der Regie der Villa Ritter, doch seinen offenen Charakter hat er beibehalten.

Musik hat die Villa immer begleitet. Galati bringt es auf den Punkt: «Für die Jugend ist Musik fast lebensnotwendig.» Zunächst Rock, später Hip-Hop. «Die Hip-Hop-Bewegung hat sich in Biel sehr stark entwickelt. Nicht zuletzt von der Villa Ritter aus», erzählt Aurel Gerber, der heute als soziokultureller Animator in der Villa Ritter arbeitet. Das sei denn auch der Grund, weshalb das Gebäude von oben bis unten, innen wie aussen, von Graffitis überzogen ist. Viele der Werke stammen vom Graffitikünstler Seyo, der weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt ist. Es fallen weitere Namen von Berühmtheiten, die, ähnlich wie Galati, erst durch die Villa Ritter Gelegenheit hatten, ihrer Leidenschaft nachzugehen: Da seien der Musiker Simon Gerber, der Zauberkünstler Blake Eduardo und noch viele mehr, unmöglich, all ihre Namen zu nennen.

50 Jahre Villa Ritter

1972 Die protestantische Kirchgemeinde führt ein Informationsbüro für Jugendliche und gibt eine Studie in Auftrag, um herauszufinden, ob die Bedürfnisse der Jugend gedeckt sind.

1975 In der Villa Fantaisie an der Schönistrasse entsteht das CAJ Centre d’animation Jeunesse. Zufälligerweise benutzen die Jugendlichen, welche die Bieler Jugendunruhen seit den 60ern vorantreiben, dieselbe Adresse sowie Abkürzung – doch das A in CAJ steht bei ihnen für «autonome».

1979 Das CAJ zieht in eine alte Villa an der Juravorstadt ein.

1984 Die Villa Ritter schliesst mit der Stadt einen Vertrag ab und wird von ihr finanziell unterstützt.

2006 Die alte Villa weicht einem Neubau, den der Verein mithilfe seiner zahlreichen Unterstützer und Unterstützerinnen selbst finanzieren kann. Das CAJ wechselt den Namen in Villa Ritter.

2022 Die Villa erlebt ihr 50-Jahr-Jubiläum und ist gleichzeitig durch die Sparmassnahmen von «Substance 2030» bedroht.

Zwei für die Jugend von heute

Doch nach 30 Jahren Breakdance- und Graffitikursen hat die Jugend heute andere Interessen. «Es wird viel getwerkt», fügt Gerber lachend hinzu. Der provokative Tanz, der sich stark auf kreisende Hüft- und Beckenbewegungen konzentriert, komme gut an bei der Jugend. Und anstelle von Spraydosen benutzen die Jugendlichen heute ihr Handy, um sich kreativ auszudrücken.

Neben Freizeitanimation leisten die Angestellten der Villa Ritter auch viel Präventionsarbeit gegen Gewalt, Sexismus oder Fremdenhass. Sie unterstützen die Jugendlichen bei der Arbeitssuche, beim Schreiben von Bewerbungsbriefen und Lebensläufen und sind Ansprechpartner für vielerlei Sorgen. Santina Proietto, die ebenfalls als soziokulturelle Animatorin in der Villa Ritter arbeitet, sagt dazu: «Oft wissen wir besser Bescheid über die Jugendlichen als ihre Eltern oder ihre Lehrpersonen.» Für die Jugendlichen sei das Zentrum wie ein zweites Zuhause. Dank des Vertrauensverhältnisses erzählen sie den Angestellten so manches Geheimnis. «Für uns gilt es dann zu entscheiden, welche der Geheimnisse eine Gefahr für die Jugendlichen darstellen, und wo wir das Gespräch mit ihren Eltern suchen müssen.» Gerber und Proietto sind sich einig: «In den letzten 50 Jahren haben sich die Interessen und Hobbys der Jugendlichen geändert, nicht aber ihre Bedürfnisse.»

Der Kampf um die Finanzen – Anträge, Spendenaufrufe und Einsparungen – hat die Villa Ritter in ihrer Geschichte ständig begleitet. Die regelmässigen Beiträge der reformierten und der katholischen Kirchgemeinde waren immer wichtige Stützen. Doch die Stadt hat die Subventionen in den letzten Jahren laufend gekürzt. Da das Animationsbudget praktisch halbiert wurde, müssen Gerber und Proietto für jedes Projekt, das sie mit den Jugendlichen verwirklichen wollen, zusätzliche Gelder beantragen. Dies tun sie während der Arbeitszeit, wodurch sie weniger Zeit mit den Jugendlichen verbringen können. Vereinspräsidentin Krafft-Golay geht davon aus, dass die jetzt angedrohten Kürzungen im Rahmen von «Substance 2030» zu einer Situation führen wird, die für die Villa Ritter kritischer denn je ist. Doch die Ritterinnen und Ritter lassen sich nicht unterkriegen und kämpfen weiter für den Erhalt dieses einzigartigen Orts für die Bieler Jugend.